Wenn du schreist

Ich sitze im Bett. Du liegst auf mir. Du bist gewickelt, gestillt und dennoch außer dir vor Verzweiflung. Du bist müde und brauchst dringend Schlaf. Doch Einschlafen ist schwer. Besonders am Abend. Also schreist du. Schon seit einer halben Stunde. Ich halte dich und höre dir zu. In kurzen Pausen gebe ich dir den Schnuller. Dann nuckelst du voller Inbrunst und Hingabe. Aber nur kurz. Ein Schluckauf stört den Frieden. Und du brüllst wieder los.

Wenn du schreist, beiße ich meine Zähne zusammen. Meine Lippen presse ich aufeinander. Die Muskeln in meinen Armen und Beinen sind angespannt. Meine Füße graben sich in die Matratze, um dich bestmöglich zu stützen. Ich muss mich daran erinnern, zu atmen und locker zu lassen. Meine Anspannung überträgt sich auf dich.

Mit einem Arm halte ich dich, in der anderen Hand halte ich den Schnuller. Stets einsatzbereit. Der Moment, in dem du dich ein klein wenig beruhigst, dauert nur eine zehntel Sekunde lang. Wenn dann nicht der Schnuller kommt, beginnt der Schreianfall von Neuem.

Ich schaue dich an, dein kleines Gesicht mit den roten Flecken. Den zahnlosen Mund, weit aufgerissen. Die Augen zusammengekniffen, die Tränen laufen dir über die Wange. Dein Kopf ist vom Schweiß ganz nass.

Die Schreie sind anfangs zaghaft, werden immer spitzer und schriller, bis sie vor lauter Erschöpfung heiser werden. Und dann kommt er, der Moment wo du kaum merklich aber doch, etwas ruhiger wirst. Jetzt den Schnuller!

Es hat geklappt. Du nuckelst mit aller Kraft. Die Augen sind fest zusammengekniffen, dein Gesicht halb in meiner Brust vergraben. Bemühst dich um Fassung, schluchzst noch einige Male. Ich frage mich: „Ist es jetzt geschafft? Schläft sie jetzt ein?“.

Ich bin deine Unterlage, deine warme weiche Matratze. Ich darf mich jetzt keinen Millimeter bewegen. Spanne alle Muskeln an, höre auf zu atmen. Jede kleine Regung, jeder Atemhauch, jedes Geräusch könnte eine neue Schreiattacke auslösen. Ich bete, dass dein Bruder nicht genau jetzt beginnt zu hämmern.

Ein Schluckauf durchzuckt deinen Körper. Und du brüllst wieder. Schreist das Schluckauf in Grund und Boden. Sagst: „Ich will endlich schlafen. Lass mich gefälligst in Ruh!“. Zehn oder zwanzig oder dreißig Minuten später - Zeit und Raum verschwimmen - liegst du schlafend auf mir. Und ich denke: „Das schönste Geräusch ist ein Babyschnarchen.“.

Etwas später, du schläfst jetzt tief, versuche ich dich abzulegen. Ich schiebe einen zweiten Arm unter deine Beine. Bewege dich im Schneckentempo in Richtung Matratze. Wie eine Schlange, lautlos und elegant, versuche ich, meine Arme unter deinem Nacken und den Beinen herauszuholen. Geschafft!

Jetzt liegst du da, allein auf der Matratze und schläfst. Ein Riesenerfolg. Ich bin glücklich und stolz. Vorfreude kommt in mir auf. Es ist erst halb acht. Ich kann heute den Abend mit meinem Mann verbringen… Juhu!

Ich rolle mich aus dem Bett. Schleiche zur Tür. Drücke dir Klinke in Zeitlupe, öffne die Tür einen Spalt breit, die Türe knarrt, du wachst auf und… beginnst zu brüllen. Wie am Spieß. Wir beginnen also noch einmal von vorne. Irgendwann schläfst du endlich wieder. An Aufstehen denke ich nicht mehr. Aber ganz aufgeben will ich meinen Feierabend nicht. Ich schicke ich ein Whatsapp an meinen Mann:

bringst du mir ganz leise ein magnum das schon ausgepackt ist?

Bestes Magnum aller Zeiten. Danke Paul.