gezeitenwende


frühling.

alles drängt ans licht.

will gesehen, will befruchtet werden.

zeit zum aufblühen.

gewusel der bienen.

gezwitscher der vögel.

laute farben überall.
sucht einen partner!

ein nest wird gebaut.

feierliches brüten.

knospen platzen.

zarte blätter zeigen sich.
grüne explosion…

und jetzt?

zeit zum reifen.

die frucht hängt am baum
sie ist noch grün und winzig.
die jungen schlüpfen.

sie brauchen wärme, zeit, schutz.
jetzt kommt der sommer.


auch ich blühte auf.
drängte ans licht.

wollte mich beweisen.

fand einen mann.
wir bauten ein nest.

ich brachte kinder zur welt.

und dann?
zeit für wärme, zeit für schutz?

noch nicht ganz.

ich wollte mehr vom frühling.

mehr streben nach draußen.

stärker aufblühen.

besser gesehen werden.

mehr kraft beweisen.

ich kann beides.

wärme, zeit, schutz für den kleinen.

streben, drängen, wachsen für die berufung.


kann ich!

funktionieren von früh bis spät.

jede woche ein marathon.
jeder tag ein endgegner.

enge in der brust.
knoten im hals.
flau im magen.
wochen, monate vergehen.

so viel zu tun, so wenig zeit.

nicht an morgen denken.

eins nach dem anderen tun.

nur nicht aufhören.

nur nicht aufgeben.
bis die luft ausgeht.


zum glück kam dann
der epiphanische moment,
auch genannt zusammenbruch.

da hörte ich auf zu wollen.

das? nein.
das will ich nicht mehr.

ich mache es anders.

eine neue zeitrechnung beginnt.


ich lasse den frühling gehen.
endlich.

der sommer darf kommen
in seinem tempo.

ein tag heiß, dann wieder kalt.
übergangszeit. schirm einpacken!


aber an den heißen tagen?
da schmecke ich den sommer.

ich bin aufgewühlt.

in mir ist alles neu.

mein kopf ist frei.

nichts ist wie es war.

ich spüre alles.

ich schwebe.

über mir die wolken.

ich wurzle.

unter mir die erde.
sie war immer da.
bloß, wo war ich?
egal. jetzt bin ich da.

alles in mir ist pure lust.

ich will vor freude platzen.

vor verlangen weinen.

ich sitze mit freunden beim kaffee.

in mir ist frieden.
kann das sein?

ich tanze und liebe mich.

darf ich das?

ich liege im gras mit den kindern,

statt die küche aufzuräumen.

ich bin verbunden mit mir
und mein kopf ist still.


doch halt!!!
da schrillen die alarmglocken.

mein system will nicht entspannen.

es reagiert mit stress.

so darf ich mich nicht fühlen.

ich muss doch arbeiten!

das leben genießen,

das war nicht vorgesehen.

niemand hatte es leicht.

meine mama nicht.

meine omas nicht.

meine uromas schon gar nicht.

und keine der frauen davor.

genießen dürfen wir nicht.

lustvoll sein gehört sich nicht.

ich fühle mich wie eine verräterin.

ich höre euch,
ahninnen mit dem ungelebten leben.
ich fühle euren schmerz.

ich habe euch viel zu verdanken.

euren kämpfen. eurer arbeit. eurer fürsorge.

dank euch kann ich fragen:
was will ich?

auch wenn ich dadurch
einen uralten vertrag breche

nach generationen von frauen,
deren leben vor allem pflicht war.

ich tue es.

für meine tochter.

und die generationen an frauen,

die nach uns kommen.
meine neue richtschur ist meine lust.
richtig gelesen.
meine lust.