Mein unsichtbarer Motor
Nach wie vor passiert es mir manchmal, dass ich mich mit anderen Frauen vergleiche.
Wow, die wurde mit einem Preis geehrt!
Wow, die hat eine tolle Figur!
Wow, die strahlt so eine Leichtigkeit aus!
Wow, die hat tausende Follower!
In diesem Vergleichs-Modus fühle ich mich schnell innerlich klein und schwach. Dabei helfen uns solche Vergleiche überhaupt nicht weiter.
Einer der vielen Gründe, warum Vergleiche sinnlos sind, ist die Unsichtbarkeit von Privilegien. Privilegien sind wie ein geheimer E-Motor bei der Tour de France. Privilegierte kommen rascher und leichter voran, obwohl scheinbar alle mit den gleichen Mitteln ausgestattet sind. Und die anderen fragen sich, was sie falsch machen. Dabei haben sie doch so hart trainiert. Sich so gut vorbereitet. Und dennoch ziehen manche scheinbar mühelos an ihnen vorbei.
Falls du dich schon mal mit mir verglichen hast, möchte ich im Sinne der Transparenz gern auf meinen sehr leistungsfähigen Geheimmotor aufmerksam machen. Er hat mindestens 6 Gänge und ich bin die meiste Zeit im 6. Gang unterwegs:
1. Gang: GESUNDHEIT
Ich bin in einem gesunden Körper mit einem gesunden Geist geboren, wie auch mein Mann und unsere Kinder. Wir verwenden nicht einen Großteil unserer Zeit für Arztbesuche, Therapien, Sorgen, kräftezehrende pflegende Tätigkeiten, … Wir sind an den meisten Tagen im vollen Besitz unserer Kräfte, können gehen, laufen, Kinder tragen, durch den Wald klettern, sprechen, sehen, hören und haben keine Schmerzen. Allein das ist schon ein riesengroßes Geschenk.
2. Gang: BEZIEHUNG
Ich habe einen liebenden Mann, der wie selbstverständlich die Hälfte (manchmal mehr) der Care Arbeit übernimmt. Ich bin nicht allein erziehend und muss in meiner Beziehung nicht um Gleichberechtigung kämpfen. Auch meine Eltern und seine Eltern sind seit vielen Jahrzehnten verheiratet und führen liebevolle Beziehungen. Was das mit uns uns zu tun hat? „Ehen, in denen einer der Partner geschiedene Eltern hat, werden rund anderthalb Mal häufiger geschieden als Ehen zwischen Partnern mit nicht geschiedenen Eltern. Haben beide Partner geschiedene Eltern, ist die Scheidungsrate gar zweieinhalb Mal höher.“
3. Gang: AUSBILDUNG
Ich habe eine akademische Ausbildung und einen schönen Titel. Warum? Weil meine Chancen dafür sehr gut standen, da auch meine Eltern diesen Grad abgeschlossen haben. Schon als Kind überlegte ich, was ich studieren würde. Die AK belegt dies mit Zahlen: „57 Prozent der Kinder, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben, erreichen in Österreich ebenfalls einen Hochschulabschluss. Haben die Eltern maximal Pflichtschulabschluss, gelingt es nur rund 7 Prozent der Nachkommen, einen akademischen Abschluss zu erreichen.“
4. Gang: UNTERSTÜTZUNG
Meine Eltern wohnen das halbe Jahr mit uns im selben Haus und unterstützen uns mit den Kindern, dem Hund, dem Garten, etc. Sind sie nicht im selben Haus, dann sind sie wenige Kilometer entfernt und unterstützen uns weiterhin nach Kräften. Diese Art von Entlastung ist unbezahlbar.
5. Gang: WOHNEN
Wir leben in meinem Elternhaus, das zur Hälfte mir gehört. Wir müssen nicht unser Leben lang einen Kredit zurückzahlen, um Wohnraum zu erwerben. Das spart uns immensen Druck und gibt uns die Freiheit, beruflich zu experimentieren. Jede zweite Familie wohnt in Miete und zahlt viel mehr als wir. Und unzählige andere zahlen horrende Summen für Zinsen und Kredit für ihr Eigenheim.
6. Gang: GELD
Wir bekommen regelmäßige Unterstützung von unseren Familien. Zudem weiß ich, dass uns „nichts passieren“ kann, weil wir im Notfall von unseren Familien aufgefangen werden. Die AK schreibt zum vererbten Wohlstand: „Nicht "Leistung" führt zu Wohlstand, sondern das Glück der Geburt entscheidet. Erbschaften und Schenkungen liefern in Österreich den höchsten Beitrag zur Ungleichheit beim Bruttovermögen.“
All das habe ich mir nicht verdient. Es wurde mir einfach so geschenkt. Dafür bin ich jeden Tag dankbar.
Viele Privilegien habe ich gar nicht aufgelistet. Das Land meiner Geburt, den Frieden, meine Hautfarbe…
Wie viele und welche Gänge hat dein geheimer Motor? Und wie gehst du damit um?