Du musst dich nicht rechtfertigen

„Du musst dich nicht rechtfertigen.“, sagt eine Bekannte zu mir. „Entschuldige dich niemals!“, rät mir eine andere Bekannte. Deine Karenz, deine Nachfolge, deine Entscheidung. Punkt.

Ich habe in den letzten Tagen viel über das „Rechtfertigen“ nachgedacht. Ich kenne dieses Wort, habe es oft gehört. Von wütenden, verzweifelten oder von beschämten Menschen.

Das Wort schmeckt mir nicht besonders, fühlt sich wie ein Fremdkörper in meinem Mund an. Was bedeutet es überhaupt?

„Etwas gegen einen Einwand oder Vorwurf als berechtigt hinstellen“, sagt Oxford Languages.

Da keimt in mir schon eine Idee davon, warum es mir nicht schmeckt.

Ich gehe davon aus, dass Entscheidungen und Verhaltensweisen grundsätzlich gerechtfertigt sind. Sowohl meine als auch die der anderen. Die Frage, ob etwas gerechtfertigt ist, die stellt sich mir nicht. In meiner Wahrnehmung tun und geben wir alle unser Bestes. Manchmal ist es für mich dennoch schwer nachvollziehbar, warum dieses Verhalten gerade das Beste ist, was mein Gegenüber zu bieten hat. Da hilft mir dann Nachfragen, um Verständnis zu erlangen.

Praktisches Beispiel aus meinem Alltag: 

Mein Sohn steigt nach dem Kindergarten ins Auto und sagt:
„Der Lorenz hat mich heut gehaut.“.

Ich frage: „Wie hast du dich dann gefühlt?“. 

Er: „Schlecht. Und wütend.“

Eine Minute später geht Lorenz mit seinem Papa an unserem Auto vorbei. Ich lasse das Fenster hinunter und sage:

„Hallo Lorenz, na, ich höre, P. und du habt heute einen Streit gehabt?“

Mein Sohn ruft selbstsicher von der Rückbank, in der Erwartung, dass Lorenz jetzt seine gerechte Anstandspauke bekommt:

„Ja, du hast mich gehaut!“

Lorenz schaut betreten. Ich frage:

„Lorenz, kannst du dich noch erinnern, warum du ihn gehaut hast? Was hat dich denn geärgert?“

Lorenz antwortet:
„Ich war müde. Mir war alles zu viel und du warst zu laut.“

Mein Sohn daraufhin wie ausgewechselt:
„Achso, das verstehe ich. Das passiert mir auch oft.“

Natürlich soll ein Kind das andere nicht hauen. Aber in diesem Moment hatte Lorenz in seinem Repertoire keine andere Strategie zur Hand, um sich zu schützen. Ich werde sein Verhalten nicht gutheißen. Aber Verständnis hilft, um wieder auf Augenhöhe zu kommen. Und dann, wenn ich seinen Wunsch nach Ruhe anerkannt habe, können wir darüber sprechen, was andere Strategien zur Herstellung von Ruhe sein können.

Ich brauche keine Rechtfertigungen. Was ich gern gebe und auch gern bekomme, ist Kontext rund um eine Entscheidung. Ein größeres Bild, damit wir einander besser verstehen können.

PS: Das Kind heißt in echt nicht Lorenz.