Apokalyptischer Reiter Nr. 3 - URTEIL
Es passiert mir immer noch ab und zu, dass ich in einem Gespräch lande, wo ich dann irgendwann einfach nur mehr raus will. Ich habe in den vergangenen Jahren begonnen zu erkennen, an welchen Stellen mir das passiert und welche Dynamiken darunter liegen. Ich nenne sie die „Vier Apokalyptischen Reiter in Gesprächen“. Zu ihnen zählen Vergleich, Rat-Schlag, Urteil und Leugnen.
Sie sind bei Weitem nicht die übelsten Werkzeuge der Kommunikation. Beschimpfung, Herabwürdigung, Drohung oder Opfer-Täter-Umkehr richten noch wesentlich mehr Schaden an.
Warum ich mich dennoch für diese vier – vergleichsweise harmlosen – Dynamiken entschieden habe, liegt daran: Vergleich, Ratschlag, Urteil und Leugnen kommen ganz leise und getarnt daher. Sie entfalten ihre grauen Schleier sowohl in uns, als auch in unserem Umfeld. Und sie hinterlassen in uns ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, Wut und Isoliertheit.
Auch sehr perfide an diesen vier „Reitern“: Sie sind oft wirklich gut gemeint. Das Gegenüber möchte uns helfen, besser zu werden. Ich möchte mit meinen vier Blog-Texten zu den Apokalyptischen Reitern dazu beitragen, dass du eine detektivische Spürnase entwickelst für diese feinen, unterschwelligen Dynamiken. So kannst du im nächsten unsicheren Momenten schneller wieder in deine Mitte finden.
Schauen wir uns heute also das dritte Muster in unserer Kommunikation an, das uns schwächt und voneinander trennt: Das Urteil.
Urteile sind nicht per se schlecht
Bevor ich tiefer eintauche, möchte ich sagen: Urteile sind nicht per se schlecht. Sie geben Sicherheit, helfen uns beim Orientieren, Entscheidungen treffen, Abgrenzen. Wenn mir mein Bauchgefühl sagt: „Diese Person ist mir nicht geheuer“, ist das ein Urteil – und vermutlich ein hilfreiches. Wenn Urteile wie festbetonierte Wahrheiten daherkommen, werden sie zu Käfigen. Meistens stimmen sie nämlich nicht, sind Momentaufnahmen oder Spiegel der eigenen Geschichten.
Warum ich mit mit Urteilen befasse
Urteile und Zuschreibungen hatten auf mich schon immer eine sehr starke Wirkung. Man könnte sagen, ich bin sowas wie ein recovering people pleaser. Gefallen und gemocht werden war mir oft wichtiger, als zu meiner eigenen Wahrheit zu stehen. Ich bin seit vielen Jahren am Weg hin zu einer Version von mir, die meiner Wahrheit mehr entspricht als den (un-)ausgesprochenen Erwartungen der Anderen.
Dennoch erwische ich mich dabei, wenn mir jemand ein Kompliment macht, mir eine innerliche Notiz zu machen, was diese Person an mir mag, damit ich in Zukunft diese Seite besonders betone. Ich will mir immer mehr erlauben, anderen zu missfallen. Deshalb ist es für mich äußerst spannend, mich mit Urteilen, Scham und Schatten zu befassen.
Die Macht des Urteils
Ein Urteil beschreibt uns und teilt klar zwischen gut und schlecht. Es sieht im ersten Moment oft unverfänglich aus. Da steht einfach ein Schlagwort – zum Beispiel „laut“. Die Frau lacht laut. Gern wird dieses Schlagwort noch auf einer Skala von „zu viel“ bis „zu wenig“ quantifiziert. „Sie lacht viel zu laut.“.
Aha. Lacht sie tatsächlich ZU laut? Für wen? Für dich, weil du heute schon einen anstrengenden Tag hattest? Voll ok. Jemand darf DIR im Moment zu laut sein. Aber niemand IST zu laut. Eine alternative Formulierung wäre: „Ich halte ihr lautes Lachen heute nicht gut aus, mein Tag war so anstrengend, ich brauche Ruhe.“. Und schon klebt das Urteil nicht wie ein Marmeladenetikett auf der Frau mit dem lauten Lachen. Es entspringt deinem Wunsch nach Ruhe.
Wenn dir das Lachen im Hals stecken bleibt
Was für einen Schaden kann so ein Etikett anrichten, wenn es mal klebt? Es kann passieren, dass diese Frau ihr Lachen unterdrückt. Aber nicht nur heute, an diesem Nachmittag, an dem es dir zu laut war. Sondern die nächsten Jahre, jedes Mal, wenn sie laut loslachen will, bleibt es ihr im Hals stecken. Beim Versuch, uns kleiner zu machen, um die anderen nicht zu stören, gehen wir im Meer der faulen Kompromisse unter. Wie schade um unsere Schönheit und Größe.
Kompliment oder Beleidigung?
Oft ist uns nicht ganz klar, ob das Schlagwort zu den erwünschten oder zu den unerwünschten Eigenschaften gehört. War das jetzt nett gemeint oder doch eine Kritik? Da sagt die neue Kollegin zum Beispiel: „Du bist aber genau.“ – Und in dir so: Ohje. Was bedeutet das nun wieder? Bin ich zu genau? Ist „genau sein“ in ihrer Welt nun gut oder schlecht?
Es sollte uns völlig schnurz sein. Warum?
- Keine Eigenschaft ist per se gut oder schlecht. Genau sein ist gut, wenn man Chirurg ist und schlecht wenn man mit seiner Tochter Sandkuchen bäckt.
- Diese Einteilung (zu genau = schlecht) spiegelt „nur“ die Meinung dieser einen Person in diesem Moment wider. Der andere Kollege findet das super. Und morgen ist auch sie froh, dass du genau warst.
- Wir sind nicht meistens eh nicht so, wie uns die Person sieht. Wir sind viel mehr. Ja, ich bin heute genau, bei dieser Aufgabe. Morgen freue ich mich über meinen schlampigen Garten und die vielen Heuschrecken.
Wir sind alle komplex - das macht‘s so schön
Wir beschreiben uns und unsere Mitmenschen ständig. Was macht dich aus? Erzähl, wie ist dein neuer Freund? Wie war eigentlich deine Mutter? Doch es liegt aus meiner Sicht schon ein Denkfehler vor, wenn wir glauben, die wundervolle Komplexität eines Menschen mit ein paar Eigenschaftswörtern abbilden zu können.
Allzu oft werden Menschen anhand einer Momentaufnahme beschrieben. Jemand sieht mein Baby für 30 Sekunden und befindet: „Die ist aber eine ganz Zufriedene.“ Jemand sieht meinen Sohn am Spielplatz und weiß: „Der ist ganz ein Wilder.“. So etwas ärgert mich, weil es viel zu kurz greift. Mein Kind kann am Spielplatz ein wilder Superheld sein und am Abend zu Hause ganz zärtlich mit seinen Puppen spielen. Mein anderes Kind ist im einen Moment zufrieden und strahlt übers ganze Gesicht – und hat im nächsten Moment den wildesten Tobsuchtsanfall. Sie sprengen jeden Rahmen. Und ich liebe es, dass es so ist.
Wenn wir selber urteilen - God bless you!
Auch ich verfalle manchmal in einen Modus, wo ich andere verurteile oder beurteile. Mir passiert das zum Beispiel, wenn ich U-Ban fahrenund in völlig andere Realitäten eintauche. Oder bei Familienmitgliedern, die ihr Leben komplett anders gestalten als wir. Oder beim Klassentreffen. Über jeden beliebigen Menschen fielen mir vermutlich 12 Urteile ein. Urteilen macht ja auch Spaß, vor allem gemeinsam mit Verbündeten.
Dennoch: Es trennt, statt zu verbinden. Es gaukelt uns vor, wir seien besser als andere. Und es füttert unser Ego, während es in der Brust eng wird. Ich möchte mein Gefühl von Solidarität und Miteinander füttern, nicht mein Ego. Mein Herz weiten, Frieden in mir spüren. Eine wundervolle Hebamme hat mir einen Tipp gegeben, wie wir der inneren Richterin begegnen können. Sie sagte:
„Mach die Richterin zur Priesterin. Segne deine Mitmenschen.“.
Und seither stoppe ich für einen Moment, wenn ich bemerke, dass ich urteile. Ich schaue die Person von Herzen an und sage innerlich: „God bless you.“. Warum? Weil es für mich immer stimmt. Eigentlich will ich nicht über sie richten. Ich wünsche ihr Gottes Segen. Ich will, dass es ihr gut geht. Das fühlt sich sehr gut an. Eine schöne Geste, seine Mitmenschen zu segnen statt zu beurteilen.
Lass sie spinnen!
Urteile können auch dafür benutzt werden, uns von geliebten Menschen in kritischen Momenten abzuwenden. Heult die Partnerin schon wieder beim kleinsten Streit? Und du findest das total übertrieben? Allzu leicht verfallen wir in einen Abwehrmechanismus, der auf einem Etikett basiert, das wir dieser Person vor Jahren aufgeklebt haben.
„Lass sie spinnen. Sie war schon immer eine Drama-Queen.“. Das ist wirklich schade. Als läge kein verborgener Schatz in diesen tiefen Gefühlen, den es zu entdecken gilt. Als wäre die Emotionalität eine unangenehme Nebenwirkung dieser Person, die man am besten ignoriert. Als lohnte es sich nicht, sich diesen Stürmen auszusetzen. Als bestünde das Ziel darin, sie „trotzdem“ lieb zu haben, statt genau dafür.
Vielfalt oder Schablone?
Was mich an Urteilen auch traurig stimmt: Wir engen einander damit so stark ein. Es gibt kaum Platz für Entwicklung. Wie oft stecken wir in alten Rollenbildern fest, merken, dass uns diese Haut zu eng geworden ist, aber können uns nicht befreien…
Wenn wir ein klares Bild im Kopf haben, wie unser Kind, Partner, Freund IST, fällt es ihnen viel schwerer zu wachsen. Wir bauen Mitmenschen aus einer Handvoll Eigenschaftswörtern eine Schablone, in die sie zu passen haben. Und meist passiert genau das. Sie passen sich der Schablone an.
Angenommen, ein Lehrer sagt immer wieder zu einem Kind: „Du bist so faul.“. Was passiert? Das Kind glaubt dem Lehrer – und verhält sich entsprechend. Wenn er dem Kind stattdessen oft sagt: „Du bist so fleißig“, wird es sich ordentlich anstrengen, um dieser Zuschreibung auch weiterhin gerecht zu werden. Toll!! Lob ist viel besser als Tadel, oder? Nicht unbedingt. In dem Kind entsteht der Glaube, seine Liebenswürdigkeit sei an seinen Fleiß gekoppelt. Es wird sich schwerer tun, mit Misserfolgen umzugehen und Pausen zu machen.
Beschreiben wir Taten und Momente, nicht Menschen
Was also schlage ich vor? Sollen wir Eigenschaftswörter aus unserem Vokabular streichen?
Nein.
Aber hängen wir sie bitte an Momente oder Handlungen und nicht an einen Menschen. Ein Lehrer kann am einen Tag sagen: „Wow, heute warst du echt fleißig!“ und am nächsten „Heut hab ich nichts von dir gehört, hast du dir einen faulen Tag gegönnt?“. Dadurch lernen wir: Ich bin wandelbar. Heute so, morgen anders – und beides ist okay.
Achtung: Ungeheuerlicher Schatten
Die meisten von uns haben Seiten, die wir gern zeigen, und andere Seiten, die wir kaum ausleben. Wenn wir stolz oder glücklich sind, posten wir fleißig auf Social Media, erzählen darüber im Büro, beim Familientreffen.
Sind wir hingegen wütend, traurig oder beschämt, zeigen wir das ungern – manchmal nicht einmal den Partner oder der engsten Freundin. Und sollten wir mal aus unserem selbst gebauten Rahmen fallen, zum Beispiel indem wir uns wütend oder rücksichtslos zeigen, leiden wir höllische Qualen und schämen uns in Grund und Boden.
Wir gewöhnen uns auch an die „Vorzeige-Seiten“ unserer Kinder und Mitmenschen und reagieren irritiert oder beschämt, wenn sie sich anders verhalten als erwartet. Da sag‘ ich dann vielleicht als peinlich berührte Mutter: „Ich versteh das nicht, dass er heut so frech ist. Er ist sonst so ein Lieber.“. Aber hey – zum Glück zeigt er sich auch mal von der rotzfrechen Seite. Er will ja alle Tasten auf der Klaviatur des Mensch-Seins spielen lernen.
Was im Schatten lebt und von niemandem gesehen werden darf, hat große Macht über uns. Die Scham ist hier die Schwellenhüterin. Immer wenn wir uns schämen, können wir sicher sein: Wir sind einem Schattenaspekt auf die Schliche gekommen. Die Scham schützt uns davor, dass unerwünschte Seiten ans Licht geraten.
Ich bin alles
Heil, ganz und richtig kraftvoll werden wir, wenn es uns gelingt, mit allen Tasten auf der menschlichen Klaviatur Frieden zu schließen und sie auch zum Klingen zu bringen. Die Projektionsarbeit von Peter König hat mir geholfen, Aspekte aus dem Schatten zu holen und in mein Bild von mir zu integrieren. Am Ende sagt man dann im vollen Brustton der Überzeugung: „Ich bin faul, und das ist ganz wunderbar.“.
Wie geht es dir mit dem Thema? Urteilst du viel über dich und andere? Schämst du dich oft? Wie gehst du damit um? Erzähl mir gern davon.
raus aus der schublade
Und zum Schluss …
… ein Gedicht. Vielleicht auch ein Manifest. Jedenfalls ein Versuch, mich selbst aus dem Kästchen mit den Schubladen zu befreien:
raus aus der schublade
du sagst, ich sei gut.
und ich so: nein. gar nicht.
du sagst, ich sei böse.
und ich so: nein. gar nicht.
bin ich das eine?
bin ich das andere?
ich bin beides.
und alles dazwischen.
schubladen sind nix für uns.
versuch nicht, mich zu beschreiben
und ein bild von mir zu basteln,
in das ich künftig passen soll.
vergiss die idee,
dass ich perfekt bin.
das bin ich keineswegs
und will’s auch nicht sein.
ich bin wunderschön
und unberechenbar.
ich mache vieles anders
als du es erwartest.
ich pflanz balkonblumen,
die die bienen nicht mögen
und stell den wildbienen
ein 5 sterne hotel in den garten.
ich find impfen wichtig
und glaub nicht an globuli.
dafür red ich mit bäumen
und meditier mich gesund.
ich bin nicht hier,
um sinn zu machen.
durchschaubar zu sein
ist mir viel zu fad.
ich pass in keine schablone,
nicht in deine, nicht in meine.
ich geb immer mein bestes
und manchmal ist das nix.
und das reicht,
mir ist das genug.
mein einziges versprechen ist
und bleibt die veränderung.
heut bin ich anders
als gestern und morgen
und folge keiner logik,
ich folge meinem herzen.
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